Himmelsleiter
Sprossen der Horizontöffnungen
Ohne Himmelsleiter, eine Leiter zum Himmel hinauf, geht es nicht. In der Tat, die Flut des Wissens, die auf uns einstürmt, ist so groß, dass kaum noch ein geordneter Überblick möglich scheint, von höherer Warte aus Stufen und Ebenen sinnvoll und nachhaltig zu erfassen und entscheidungsrelevant für Menschen in der Kompetenzhierarchie zur Geltung zu bringen.
Eine gewaltige Himmelsleiter, die einem zu erklimmenden Achttausender gleicht, hat der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit seiner „Phänomenologie des Geistes“ vorgelegt. Was der biblische Jakob nur geträumt hat, ist mit der „Phänomenologie“ zu einem philosophischen Werk geworden. Die Schwierigkeit bis heute besteht jedoch darin, dass noch kein Interpret zu sehen ist, der diesen hochaufragenden Gipfel an Überschau wirklich bezwungen hat.
Einen erneuten Aufstiegsversuch in unserer Zeit hat Pirmin Stekeler unternommen, dieses erratisch anmutende und aufragende Massiv mit vielen Klettereisen anzugehen. Doch es muss beim Kopfschütteln bleiben: Viel Aufwand für einen zu geringen Ertrag und auch noch sehr teuer, noch teurer zusammengebundene Kommentare zum Sammelwerk eines Zaungastes an anderer Stelle. Und doch gibt es das heraus-geforderte Wissen à la Sokrates, das uns provoziert, nämlich dieser Unwissenheit, die wir nicht vom Himmel auf die Erde zu sehen vermögen, mit gemeinverständiger Himmelsperspektive ein Ende setzen zu müssen. Wer kennt nicht den Spruch: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Noch nicht gewusst wird, was mit dem Blick auf das Buch mit so vielen Siegeln zu wissen begehrt wird!
Die Notwendigkeit zwingt uns im Scheitern unserer Kurzsichtigkeit immer wieder: Sei es über die Nasenspitze, den Nachbarzaun, die Kirchturmspitze, den Berggipfel hinaus, eben sich ausbreitende Gefahren und auch anrückende Bedrohungen voraussehen und erkennen zu müssen und nicht wie plattnasige Kinder am Fensterglas schon zu vermeinen, zureichend nach draußen geschaut und alles gesehen zu haben. In dieser Weise gibt es nicht wenige Kurzsichtige: Unternehmer, Politiker, Ideologen, ja, auch Wissenschaftler und Philosophen.
Auch kurzsichtige Lehrer, hier die gymnasialen, von denen hier zu sprechen ist, die den Lernenden exemplarisch eine Himmelsleiter zum höchsten Zenit der Vertikale erschließen könnten, aber in ihrer Aufgabe versagen. Die „Phänomenologie“ können wir vergessen. Was didaktisch möglich wäre, bliebe auf eine Sequenz beschränkt. Es muss jedoch um das begriffene Ganze von Anfang an, vom tatsächlichen Ausgangspunkt bis hin zum Ende der krönenden Spitze zu tun sein.
Für diese Herausforderung steht ein klassisches Lehrstück von Platon, nämlich das sogenannte „Höhlengleichnis“, das allerdings über Geschichtszeiten hinweg in der Interpretation darunter gelitten hat, nicht dasjenige, was an Deutung herauszulesen wäre, geleistet zu bekommen, sondern es sind je eigene angestoßene Phantasien, die hineininterpretiert werden und unverstandene Stellen aus dem kurzen Text einfach weglassen und übergehen.
Dass mit dem Höhlengleichnis eine authentische Himmelsleiter, eine Leiter zum Himmel hinauf, gegeben ist, die doch so wichtig für so viele Höhenstufen im Leben ist, bleibt den Lernenden vorenthalten und von den Lehrenden auf den Kurs von Irrlichterei und Verstellung des wirklichen Aussagegehalts gebracht. Und insbesondere die Verstellung der Deutungsnotwendigkeiten tritt auf höchstem Niveau eines hochgeistigen Imponiergehabes mit spreuendem Scheinwissen an.
Bloße Vorwürfe ohne Belege sind verachtenswert. Eine Kritik muss Hand und Fuß haben. So sei es denn. Das Gleichnis spricht von der Höhle drinnen und der Welt im Sonnenlicht draußen, beschreibt, gibt Details für das Wiedererkennen an, für den Gefangenen und die Selbstbefreiungsmomente. Was daraus wird, können wir auf ein Kind verkürzen, dem es versagt ist, das Haus zu verlassen und dem es endlich gelingt vor die Tür zu treten, in die Welt hinaus und zum Himmel hoch zu schauen.
So findet sich das sogar in komplizierter Aufmachung eines professoralen Denkens wieder. Die dunkle Höhle, abstrakt darauf verkürzt: das Gefängnis der Sinnenwelt hier und die intelligible Lichtwelt der Ideenlehre da, das Abstraktum der Freiheitswelt. Es geht in solcher vereinfachenden Weise die differenzierte Vertikale an der Übergangsscheide verloren, mit plattnasigem Blick ins Sonnenlicht hinaus und dann wieder ins Höhlendunkel zurück. Und die Lernenden dieser Sichtweise, für höchste Ämter berufen, treten dergestalt undifferenziert mit dem ersten Schritt ins Leben irgendwann in oberflächliche Verantwortung. Und solcherart primitive Bewusstseinsstruktur, das ist zu befürchten, regiert auch heute unser Land und unsere Welt. Man muss die Beispiele nicht gerade suchen.
Platons Höhle auszuleuchten und zu interpretieren, diese Startphase des Lebens beschert schon einen Strauß an elementaren Lebenseinsichten, der in der Höhle als glasiger Blick oder unaussprechlicher Traum in Kindheitsjahren anzutreffen ist, alles Gesehene flieht, entschwindet, zum Schatten verblasst. Auch Elterliches ist geworden, in früherer Zeit eher von der Alterskohorte, von einem ersten reflexerzeugenden Alter Ego wie auch schemenhaft von undurchdringlichen Fassaden begleitet oder angestarrt, vom instinktiven Gefühl geleitet, angsterfüllt oder freudestrahlend alsdann Lehrenden übergeben oder ausgeliefert, Stufe 2: die Schattenbildung in der ersten lichten Welt: lautverständig, aber inhaltlich unbegriffen, so lesen Grundschulkinder toll und nicht nur diese, ohne verstanden zu haben, Stufe 3: Spiegelungen, die Schein und Sein einspielen, was Uferrand (Wirklichkeit) und Wasserspiegel (Abbildung) zeigen, Stillleben der Natur und Narziss, der zu seinem Wesen das Äußere erblickt, es geht um Bleibendes und Fliehendes und schon um die Wahrheitsfrage, Stufe 4: Dinge selbst als Abbilder des Wirklichen in den Wörtern der jeweiligen Sprache, mündlich die kollektivbildende Größe, dann schriftlich das Bleibende dem Bewusstsein fixierend, Zeichenwelt der Zahlen und Worte, Geschichte und Geschichtlichkeit aufschließend, Stufe 5: Jahreszeiten im Sonnenlicht der Sprachwelt, Jahreskalender im Tierkreis der Himmelskarten, Stufe 6: Denken selbst als Kraft der Orientierung und Besonnenheit, Stufe 7: Framing durch Sonnenbahn: Dem Menschen noch entzogener Fixsternhimmel, Forschungsfeld für Sternengucker. Und es steckt mehr drin, als der Aufstieg vom Mythos zum Logos. Es geht vom S-R-Lernen der Kindheit aus und schlussendlich zum vernünftigen Denken im Licht der himmlischen Gestirne fort, dem Generationenprozess übergeben, dem Fortgang, dieser Substanz des Bewusstseins und ihrer Akzidenzien, mit Aufstieg und Rückkehr, zu neuen lockenden Ufern hin und erneuten Varianten des Schicksals, vom Höhlengleichnis gleichsam exemplarisch auf Sokrates bezogen.
So erschlossen und eintrainiert macht es sich leichter die Phänomenologie zu lesen, die Stufen und Ebenen zu verstehen, je das Individuelle, Besondere und Allgemeine, solchen Gewinn daraus ziehend, nicht der Unmittelbarkeit auf einer Sprosse der Himmelsleiter zu erliegen, weder im Blick nach unten zurück oder zu den Sprossen nach oben hinauf. Auf die Politik gemünzt passt gut das Bild der Leute auf dem Mitteldeck der Titanic. Sie tanzen und lachen, spielen und tricksen, kümmern sich den Dreck ums Unterdeck der kleinen Leute, die vielleicht schon ersaufen und haben auch keinen Sinn für die Lage am Oberdeck, für das trockene, steife und eher lebensfremde Führungspersonal. Sie haben durchaus einen Ruck registriert, der das Schiff auf ganz kurz erfasst hat. Doch dieses Momentum hat nicht die Sorge wachgerufen, sei es, mal unten nachzuschauen oder oben nachzufragen. Man macht weiter, als sei nichts gewesen, ist sich selbst genug!
Es ist von einem Bildungsdefizit zu sprechen, vom vertikalen Mangel an Selbst- und Welterschlossenheit, eine Aufgeschlossenheit, die automatisierte Reflexe elementar für Vertikalwahrnehmung auszulösen und einzuspielen vermöchte! Das Singuläre reicht nicht hin, sollte einer allein wirklich für sich die Vertikale begriffen haben. Das Allgemeine der Bildung ist gefragt, das alle, einmal angestoßen, elektrisiert und sie zum Handeln treibt. Es bleibt der Allgemeinbildung gegen zersplitterndes Vielwissen in der Tat viel an gründlicher Nacharbeit aufgegeben, für uns, die wir in Wissensfluten ertrinken, an Oberflächlichkeit wie Kork auf dem Wasser tanzen und hilflos ohne Kielschwert und tiefgehenden Anker den Wellenschlägen ausgeliefert sind.
Hand aufs Herz: Auf wie viele Horizontöffnungen der Selbst- und Welterschlossenheit im Abgleich zum Höhlengleichnis können Sie zurückgreifen? Vorab schon die Testfrage: Was fangen Sie mit dem Verweis Kants an: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“?
ANNOTATION
Eine Fortführung des Höhlengleichnisses über das klassische Lehrstück hinaus habe ich von der Rechtsphilosophie Hegels her als Sphärenmodell um weitere Sprossen der „Himmelsleiter“ angerissen: „Höhlengleichnis – Sphärenmodell für die Avantgarde“. (Text bei Facebook eingestellt)
Jakobs Traum von der Himmelsleiter, diese biblische Geschichte verdient erneute Aufmerksamkeit, nicht nur das himmlische Auf und Ab der Engel in ihren jeweiligen Besorgungen nach unten und Beförderungen nach oben, auch der sehr irdisch beklemmende Streit der Brüder, Jakob dem Tod entflohen, wie ausweglos für immer in der Fremde, nicht mehr im Vaterhaus. Was noch dem Wachbewusstsein verschlossen ist, tut der Traum als Verheißung auf. Noch unverstanden und ungedeutet, utopisch. Ein Versprechen für das lebendige Tätigsein dieser noch geträumten Welt der Menschheit in der Natur zum Segen des himmlisch geschauten Ganzen, allerdings noch ganz männlich geprägt und über die Jahrtausende immer wieder als bös aufbrechender Bruderstreit im Zeichen der jeweiligen Vatergottheit fortgeführt.
Der fernöstliche Himmelstraum versprach in den „göttlichen“ Anfängen der Himmelsgestirne ein elterliches Zusammenwirken von Yin und Yang, um dann doch, wodurch auch immer hervorgerufen, der väterlichen Herrschaftslinie bis auf den heutigen Tag massengewaltig zu erliegen. Geblieben ist die Überlieferung vom Weg des Himmels, welcher der Menschenwelt in der Natur aufgegeben ist, wohlabgestimmt diesen Weg zu gehen und ihn nicht zu verlassen, den Schatz des himmlischen Wissens nicht preiszugeben. Wohlgerundet niedergelegt im Werk: „Frühling und Herbst des Lü Bu We.“
Der nachhaltige Erfolg, ob im fernen Osten oder in westlich geprägten Ländern, er ist Herausforderung geblieben, er ist die Widersprüchlichkeit zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Verstandesherren und Vernunftgebietern, von eindimensionaler Versöhnung weiterhin oder doppelgleisiger Verschwisterung neu. Der Spannbogen reicht vom „Tao“ zum „Laudato si“. Ja, Franziskus hat mit seiner Enzyklika: Über die Sorge für das gemeinsame Haus“ (2015) Geschichte geschrieben, der Welt heute Wegweisung gegeben und das „Tao“ nach zweieinhalbtausend Jahren neu ausgeschrieben. Er hat den Weg der Vernunft zeitgemäß neu gefasst, nicht nur ökologisch, auch wirtschaftskritisch und sozial, für eine Menschenwelt, vom Abgrund bedroht, sollte die ökologische Umkehr ausbleiben und über Franziskus hinaus die geschwisterliche Umkehr nicht vorankommen! Es werfen nicht nur konsumtive Mamma-Gier, sondern auch atomare Phallokraten wie auch martialisches Cultural Lag Ewiggestriger dunkle und sichtverstellende Schatten auf den Weg des Himmels und auf unsere zerbrechlichen Gedankenwelten. Grundsätzlich: Bei aller Lauterkeit jedoch, da ist das symbolische Eunuchentum, wie der verkannte und durchschlagende Naturtrieb ganz unheilig, ja fürchterlich und beschämend bloßlegt, keine Antwort auf gleichberechtigte Augenhöhe der herausgeforderten Geschwisterlichkeit in der tagtäglichen Alltagswelt und auf Himmelshöhen. Was lehrt uns Yin – Yang hier in unserem Teil der Welt und nicht nur hier, auch im anderen Teil der Welt wegweisend neu?
Ein wunderbarer Stoff für das Nachdenken, für das Gespräch miteinander und das gemeinsame Streben und Justieren auf dem Lebensweg, ihn synergetisch zu pflegen, ein Weg, der mit jedem Schritt schon das Ziel ist, als gelebte und schon anwesende lebensgerechte Welt, ganz besinnlich für unser Denken und Tun.