top of page

NIETZSCHE

Auch Tobias Hürter hat die Gnade der späten Geburt nicht zu einer besseren hermeneutischen Einsicht in Deutung und Umgang mit Friedrich Nietzsche verholfen. Sein Artikel bei Zeit Online zum „Rechtspopulismus: Nietzsches falsch verstandener Übermensch“ mag gut gemeint sein, aber in der Sache hat sich der Autor übernommen und eher alte Reflexe befördert denn hilfreiche Impulse für  eine geschärfte Wahrnehmung der Wirklichkeit gegeben. Für Deutschland und etliche Länder Europas ist  die Nietzsche-Rezeption ein schlimmer Irrweg geworden. Nietzsche kann als mephistophelischer Zarathustra  gewertet werden, der mit den Augen von Walt Whitman gelesen werden muss, mit dem Aufbruchsgeist der Neuen Welt: „Grashalme“, den Nietzsche „zarathustrisch“ konterkariert und der Alten Welt und insbesondere den Deutschen vermacht hat. Die Zeit-Redaktion muss wohl angesichts des offerierten Nietzsche-Bildes geschlafen haben.

Nicht wenige haben sich mit diesem jungen Aufsteiger und Hochbegabten identifiziert, der im ersten Lebensabschnitt eine steile Karriere zu akademischen Ehren genommen hat, dem dann der Erfolg immer saurer geworden ist, ja, den ein bitteres Siechtum ereilt hat und den die verzweifelten Kompensationsanstrengungen sukzessive in die brütende Höhlenwelt zurückgeschickt haben. Kein Höhenflug des noch lebensoffenen Willens der ersten Tage mehr. Stattdessen ein sang- und klangloses Abdriften in eine selbstgenügsame Gedankenwelt. Friedrich Nietzsche ist seine eigene Höhlengeschichte geworden, der sich im Freien vorgefunden hat, ohne recht zu wissen, wie ihm, von Lebensumständen begünstigt, geschehen ist, dass er den Weg in die vornehme Aufsteigerwelt gefunden hat, wie ihm alsdann widerfahren, gesellschaftliche Vereinsamung daraus erwachsen und danach der weitere Weg zum intellektuellen Ressentiment seiner Lebensgeschichte geworden ist.

Das aufblühende Talent findet sich im Freien vor, es achtet nicht Vernunft und Wissenschaft, folgt dem Gesetz des Herzen, findet offene Herzen, nicht ohne Eigendünkel, lobt diese und verprellt jene, leidet am Schicksalsschlag, erlebt sich aussätzig, verliert Überzeugungskraft und Zuspruch, arbeitet sich klassisch an seiner Weltwahrnehmung ab. Loblieder und geistreiche Einsichten werden weniger, der kritische Zugriff härter, die Bedenkenlosigkeit größer. Verdüsterndes Ressentiment bricht sich Bahn, vielleicht doch noch den Erfolg durch geschliffene Schärfe der Hinsichten für die begehrte Anerkennung erzwingen zu können. War anfangs guter Wille der Gedankenführer, lebte sich schlussendlich der Wille in rücksichtslosen und bösen Gedanken aus. Ein doppelgesichtiger Nietzsche wie Dr. Jekyll and Mister Hyde. Am Ende nur noch in autistischer Nacht der mitleidslose Zarathustra: Compassion als letzte Sünde, die es zu tilgen  gilt.

Was auch immer im Einzelnen den Wechsel von einem Extrem ins andere lebensgeschichtlich ausgelöst hat, das negative Extrem hat weltbedeutsamem Furor Pate gestanden und der nachbereiteten Letztschrift aus der Hand der Schwester zynischen Nachruhm und Kult beschert: „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte.“ Nietzsche selbst hat weder den großen Erfolg noch eine erwartungsgerechte Würdigung auf sein Schaffen hin erfahren. Er ist geistig umnachtet gestorben. Er ist zeitlebens der „Zarathustra“ in seiner Höhle geblieben, der in die tiefe Vergangenheit gestiegen ist, über die Dinge des ursprünglichen Lebenshungers sinniert hat, besessen vom Allmachtswahn, auf einen neuen und höheren Menschentypus, von allen Fesseln befreit, hinaus.

Nietzsche, der Zarathustra der Höhle, hat durchaus Aufsehen erregt. Aus seinem Buchköcher hatte er bereits Giftpfeile gezogen und in die Welt geschickt, Giftpfeile: Genealogisches „blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse“, die Positionierung des Antichristen: Kant als Idiot und Gott kein Gott, der „nicht Zorn, Rache, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem … die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären “, das unerhörte Jenseits von Gut und Böse, so nicht verstanden: Zunächst „Herdentier-Begierden… die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen“, alsdann „ … den tölpelhaften Philosophaster und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Sozialisten nennen und die ‚freie Gesellschaft‘ wollen“, schließlich: „ Das Weib verliert an Scham … Es verlernt den Mann zu fürchten … das Weib … steht an der Pforte … ‚Herr‘ zu werden … es gibt genug blödsinnige Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln männlichen Geschlechts, die dem Weibe anraten, sich … zu entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, … an denen … die europäische ‚Mannhaftigkeit‘ krankt.“ Zarathustra, er spricht zu Letzterem eine andere Sprache: „Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers: alles andre ist Torheit … Das Glück des Weibes heißt: Er will … Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht! … So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andere“. Zweck des Ganzen vorab: „O selige ferne Zeit, wo ein Volk sich sagte: ‚ich will über Völker – Herr sein! … Bessere Raubtiere sollen sie also werden … der Mensch nämlich ist das beste Raubtier.“

Dieser kleine Zitationszuschnitt als Kontrapunkt zu Blumenberg, der den Höhlengänger Nietzsche ästhetisiert und wirkungsgeschichtlich verharmlost. Mag sein, dass dies darauf zurückzuführen ist, da doch Nietzsche sich gegen den Antisemitismus durchaus deutlich ausgesprochen hatte. Blumenberg verkennt aber die antijüdischen Einstreuungen, die ebenso eindeutig den Antijudaswahn und den Weg der Vernichtung bis in die Gaskammern hinein befördert haben. Anders gefasst: Es konnte der Antisemit eben Nietzsche in bekräftigender Weise als Seinesgleichen verstehen und lesen. Es ist ja nett, wenn sich, wie so viele, die kleinen sprachlich gelungenen Glanzstücke aus den Nietzsche-Schriften herausfischen und sich selbst dadurch die Absolution erteilen wollen, keine Abgeirrten vom Pfad der Tugend gewesen zu sein und auch nicht zu sein.

Insofern: Es ist der Bewusstseinsdruck noch einmal zu erhöhen, dass mit Nietzsche und seinem Gefolge sich ein geistesgeschichtlich archaischer Absturz ereignet hat. Mit Blick auf das deutsche Grundgesetz wäre Nietzsche der Widerspruch und die Verneinung der Essentials.

Zur Ausgeburt des Höhlengeistes, der da ist als Kampf gegen Parteinahme für die „Schwachen und Missratenen“, gegen „Vermoralisierung“ und „Entnationalisierung“ in Erinnerung an Ursprünge, ein Plädoyer für Selbsterwachen: „Wie musste das (noch Nicht-Nationale, J.M.) alles erst germanisiert, barbarisiert werden! Solchen, die ein Walhall geträumt hatten -: die alles Glück im Kriege fanden.“

„Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: ein furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang ‚will‘.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!“

„Die Aufrechterhaltung des Militär-Staates ist das allerletzte Mittel … Und alle Begriffe, die die Feindschaft und Rangdistanz der Staaten verewigen, dürfen daraufhin sanktioniert erscheinen.“

„Der Staat oder die organisierte Unmoralität – inwendig: als Polizei, Strafrecht, Stände, Handel, Familie; auswendig, als Wille zur Macht, zum Kriege, zur Eroberung, zur Rache.
Wie wird es erreicht, dass eine große Menge Dinge tut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde? – Durch Zerteilung der Verantwortlichkeit, des Befehlens und der Ausführung. Durch Zwischenlegung der Tugenden des Gehorsams, der Pflicht, der Vaterlands- und Fürstenliebe. Durch Aufrechterhaltung des Stolzes, der Strenge und Stärke, des Hasses, der Rache – kurz aller typischen Züge, welche dem Herdentypus widersprechen.“

Wo es den Herdentypus gibt, bedarf es einer Führerideologie, die große Gefolgschaft gefunden hat, die tut und dem folgt, was denn der Führer für alle denkt.

„Der große Mensch fühlt seine Macht über ein Volk, sein zeitweiliges Zusammenfallen mit einem Volke oder einem Jahrtausende – diese Vergrößerung im Gefühl von sich als causa und voluntas wird missverstanden als ‚Altruismus‘ – es drängt ihn nach Mitteln der Mitteilung: alle großen Menschen sind erfinderisch in solchen Mitteln. Sie wollen sich hineingestalten in große Gemeinden, sie wollen eine Form dem Vielartigen, Ungeordneten geben, es reizt sie, das Chaos zu sehn.

Missverständnis der Liebe. Es gibt eine sklavische Liebe, welche sich unterwirft und weggibt: welche idealisiert und sich täuscht – es gibt ein göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das Geliebte umschafft, hinaufträgt.

Jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Missratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war!“

„Ich schreibe für eine Gattung Menschen, welche noch nicht vorhanden ist: für die ‚Herren der Erde‘.“

„Der größte Kampf: dazu braucht es einer neuen Waffe.
Der Hammer: ein furchtbare Entscheidung heraufbeschwören, Europa vor die Konsequenz stellen, ob sein Wille zum Untergang ‚will‘.
Verhütung der Vermittelmäßigung. Lieber noch Untergang!“

Sprengsätze, mit aller Kraft aufgeboten, Dynamit, für Resonanzerzeugung gegen widerständige etablierte Übermächte präpariert, illustrieren das Schlachtplanrumoren und den Tunnelblick des Höhlenakteurs. In diesem Wissen von unerhörter Stärke ist denn auch die Zeit gekommen und die Bereitschaft zum Handeln gegeben. Mit den Lehren der bereits in die Welt geschickten Giftpfeile stand diesem Zarathustra, noch in der Höhle, nun, voller Tatendurst, seines Publikums gewiss, der nachhaltige Welterfolg vor Augen:

„Ich trachte nach meinem Werke… Also sprach Zarathustra und verließ seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.“

Friedrich Nietzsche, Werke, 5 Bde. Hg. Karl Schlechta. Frankfurt/M. 6/1976ff.
Bernhard H.F. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum. Leipzig 2000

Postskriptum: Aktualitätsbedingt einer unveröffentlichten Textreihe zum Höhlengleichnis entnommen: Szlezák – Ferber - Blumenberg – Taureck – Nietzsche – Whitman.

bottom of page