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Höhlengleichnis im 21. Jahrhundert

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Teil I

Teil 1: Schwierigkeiten im Zugriff

 

Vielleicht liegt es an Schulerinnerungen und an den eingepaukten Maßstäben, die dann auf Ebene mit Wissenschaftsanspruch Verblüffung erzeugt und Erstaunen ausgelöst haben, und zwar in Bezug auf Texttreue, die im schulischen Selbstvergleich, was die an Übungstexten penetrierte Wiedergabe eines Textes bezüglich Form und Inhalt angeht, stark abfallen, bevor überhaupt an eine deutende Textauslegung, Übertragung und Stellungnahme  gedacht werden kann, um dem Anliegen des begründenden Textes vom Leitgedanken her objektiv und subjektiv gerecht zu werden.

 

Der Eindruck, der sich einem kritischen Leser vieler Interpretationen aufdrängt, wird mehr oder weniger sein, dass es auslegungsweise nicht mehr um das Höhlengleichnis selbst geht, was es als Gleichnis zu besagen gibt, sondern dass es vordergründig für eigene Anliegen,  Interessen und Vorstellungen abgegriffen und  benutzt wird, um eigene Assoziationen, Vorstellungen und Gedanken durch unorthodoxen Textbezug für die Gewichtigkeit der eigenen Position aufzuwerten und ihnen vielleicht auch noch eine höhere Weihe mit dem Höhlengleichnis und dem Philosophen Platon zu geben.

 

Platons Höhlengleichnis übt eine magnetische Anziehungskraft auf Leser aus, schlägt sie in den Bann, löst ein Ungefähr von Angesprochensein und Erkennen aus, regt zur Suche an, es genauer wissen und verstehen zu wollen. Letztendlich kapitulierend und sich darin genügend, nämlich rätselhafte Stellen zu überspringen und sie auszulassen oder einfach ungenervt zu übersehen. Die Inkonsequenz in der Auslegung durch Auslassung scheint nicht zu stören. Man hat sich damit abgefunden, weiß sich durch andere bestätigt und entlastet und denkt nicht mehr darüber nach.

 

Ignoranz verkennt indes,  dass Platon nicht oktopushaft auf zufällig zu erreichende Worte zugegriffen, sondern sie gründlich, wohlüberlegt und bedeutungsgewichtig platziert hat. Die Auslegung leidet jedoch, das Textverständnis ist in erheblicher Weise lückenhaft. Auslegung gerät dann dadurch mehr oder weniger zum Hohlgespinst oder auch zum  Willkürprodukt von Zufallseingebungen, einer sachlichen und methodischen Erwartbarkeit entgegen, wie interessant und plausibel auch immer Aha-Blitze, den Zusammenhang verlassend,  für einen Effekt aufgemacht werden.

 

Es geht nicht darum, Einsichten, die sich assoziativ eingestellt und ergeben haben, seien diese kleinkariert oder großflächig den Text aufgreifend,  auszuschließen und zu entwerten, sondern es gilt Texttreue, den Text gedanklich und verständig zu erfassen, folgerichtig und schlüssig en detail und en gros kohärent zu verständigen  und für Übertragungen zu deuten und aufzuschließen, nicht zuletzt den Gedankensprüngen, der Gleichnis- und Textabsicht und dem Spiel mit vielen ablenkenden und textsprengenden Verweisen entgegen. Es ist nicht zu viel verlangt: Wo mit der Etikette Höhlengleichnis eingeworben wird, muss es auch in der Auslegung wesentlich um das Höhlengleichnis gehen. Um nichts weniger geht es.

 

Nach gründlichem Einlesen ist eine Inhaltsangabe des Wesentlichen ein notwendiger Anfang, vielleicht auch noch angereichert durch Austausch der Eindrücke, die eine Lesegruppe mit gleichem Text und Leseziel ermöglicht, von diesen Anregungen für mehr Textdurchdringung zu profitieren. Aus der Erfahrung heraus, da sollte das Eingeständnis weiterhelfen können, dass die Schwierigkeiten im Textverständnis, selbst unter diesen guten Bedingungen nicht weniger geworden sind, sondern im Zuge der Achtsamkeit an Unsicherheit mit Blick auf das Textganze zugenommen haben. Mein Geständnis: Auf lange Zeit ist für die inhaltliche Wiedergabe, im Vertrauen auf einen der Großen vor einem halben Jahrhundert, der Philosoph Karl Jaspers mit seiner Verinhaltlichung des Wesentlichen orientierungsstark geworden. Auch nicht perfekt, was im Sinne wesentlicher „Kleinigkeiten“ über Jahrzehnte als nichtexistent in den Bemühungen um Verschlüssigung ausgelassen worden  und erst sehr spät als Übernahmefehler aufgefallen ist.

 

Nicht alle haben solches Vollständigkeitsziel als Anspruch vor Augen. Das bedeutet aber, als Interpret den Anspruch des Höhlengleichnisses zu reduzieren und erfordert darum,  die Bezugsweise kenntlich zu machen, in etwa wie Wissenschaft verfährt, um vornehmlich einen interessierenden Aspekt wie mit Lupe herauszuarbeiten, aber nicht um den Preis, dadurch winkelzieherisch oder mit der Schere das Textganze für den Effekte zu verfälschen oder zu verstellen. Wenn vom Gleichnis die Rede ist, muss auch dieser Rahmen gewahrt bleiben. Dazu gehört auch vom Erwartungshorizont der unterschiedlichen Interessen der Leser, nicht das Gesuchte zu umgehen, es auszusortieren.  Zulässig in Bezug auf engeren oder breiteren Zugriff, da orientiert die wissenschaftliche Verfahrensweise hilfreich, nämlich dass durch Fragestellung und Eingrenzung der Untersuchung und Textauslegung selbst der Anspruch für den Leser beziehungsweise Rezipienten kenntlich gehalten wird, worauf und inwieweit Anspruch in Bezug auf Autor und Text  erhoben wird und worauf und inwieweit nicht.

 

Grenzen der Rationalität haben auch mit der Verlässlichkeit der Texte selbst zu tun. Ob Original oder Übersetzungen in anderen Sprachen. Da differieren die sprachlichen Möglichkeiten, finden feine Unterscheidungen statt, selbst bei Spitzenleistungen der Wiedergabe im Bemühen um Authentizität, den Gedanken mit einem Wort – welches  denn umschreibungslos passen kann – auf den Punkt zu bringen.  Es gibt diese Feinheiten als Schwierigkeiten in der Übersetzung von Sprache zu Sprache. Im Sprachvergleich dt./engl.:  Bildung und Erziehung werden im Deutschen je für sich, nicht verschieden, aber pädagogisch unterschiedlich gewusst. Education im Englischen kennt diese Unterscheidungsschärfe für das Begriffspaar nicht, beinhaltet stark das Moment der Erziehung und weniger das Moment der Bildung, nimmt jedoch beide Worte konnotativ im Wort „Education“ auf. Nicht unwichtig von Hegel her um das Triadische zu wissen  und es zu kennen, der Bildung objektiv als Sachbewusstsein auffasst und denkt und Erziehung subjektiv vom Selbstbewusstsein her erfasst und versteht und die ideelle Einheit von Bildung und Erziehung als Vernunftkategorie von Selbstvermögen, Selbstregierung und  Selbstkontrolle gedanklich durch das absolut Denkende aussagt. Nicht zuletzt sei das Momentum der Selbsteinlassung genannt, in sich hineinzuhören, in sich selbst Bilder und Stimmen finden, Selbsterlebtes, abgesunken, Suchpunkte haben und an Wiederentdecktem Gewissheit, Rückhalt und Orientierung haben.

 

Bei Platon wäre das, was den Anfang im Höhlenleben des Menschenkindes ausmacht, als hybride Schnittmenge zu verstehen, als ein sich entwickelndes und ausdifferenzierendes und von Einflüssen umgebenes Lebewesen mit den von Platon wahrgenommenen Hauptmerkmalen nach der tierischen Seite hin wie auch vom Erleben der Höhlenumwelt her, getrieben und angereizt, propriozeptiv. Übergangsweise zum Befreiten hin, im Freien, was die Befreiungen der menschlichen Seite und der ihr zugehörigen Erlebensweisen angeht, schließlich die Befreiungsgeschichte überhaupt als stets gefährdeter und als gefährlicher Versuch, der uns Heutige zurückfragen lässt, wie es von Befreiungsstufe zur nächsthöheren gewesen und wie es den Menschen, gewissermaßen schicksalhaft, in der Zeit des Umbruchs und des Übergangs von Stufe zu Stufe in der Gegenläufigkeit von Altem und Neuem ergangen ist. Die Ideenschau,  sie steigt vom Schatten bis hin zur  Sonne selbst Etappe um Etappe auf. Vom Hordenleben zum Paradiesgarten, von der  Mythenwelt zu  Sprachwesen und Verortungsweisen, hin zu den Vernunftgestirnen der Gedankenwirklichkeit. 

 

 

Teil 2: Höhlengleichnis – systemisch  erfasst

 

Was besagt es wesentlich?

Es geht um den Unterschied von Bildung und Nicht-Bildung.

Homo est animal rationale.

Einfach strukturiert: Das „Animale“ in der Höhle, das „Rationale“ im Freien unter der Sonne.

Sensibilisierung für Feinstellung gefragt: Als animalischer Lebensbereich instinktiv in der Höhle. Verhalten nach Trieb, Reiz, Reaktion. Erleben unmittelbar sinnlich, flüchtig, unbestimmt. Tagtraum wie Nachttraum. Als Übergangsphase: hybrid,  anreizschaffend, kontrasterzeugend, hier langweilig, weil altbekannt, erwartend da, wie gemalt gesehen und ersehnt, Wendepunkte sich hochspiralender  Lichtwerdung, die rationale Stufenfolge aufwärts erinnerungsgestützt und intelligent aufgefasst: merkend, spiegelnd, symbolisierend, kartierend, denkend –  jeweils als Wahrheitsgeschenke.  Anders im Erleben gefasst:  Zunächst animistisch sehend, selbstübertragend, frühkindlich mimetisch gelernt, an Wahrgenommenem klebend, sich ineins empfindend. Sodann  angestoßen, ins Rollen gebracht, neugierig, wie aufgezogen, konzentrisch Überholtes  hinter sich lassend, immer dasselbe, nur anders, Erfahrenes versammeln, betätigen, auf Übersicht,  Einsicht, Verbesserung hinaus. Schlussendlich: Gestirne, Bahnen, Einteilungen und Zusammenhänge unterm Himmel kennen und auf den irdischen Gang des Naturlebens beziehen. Himmelsbeobachtungen,  sie gewähren Orientierung für besonne Einordnung im bleibend wiederkehrenden Kreislauf für vernünftiges Tun und Lassen. Insofern nicht unbedingt die Vernünftigkeit –  auf  allen Stufen geltend – immerzu  regiert, dass nämlich Besonnenheit Tun und Lassen orientiert, insbesondere, was exemplarisch die Rückkehr des Befreiten in die Höhle vor Augen führt, drohen alarmierende Risiken und Fallerfahrungen  der Unbesonnenheit, und zwar durch den Mangel an Einfühlung, durch Überforderungen im Aufnehmen, Umlernen und Zugemuteten  oder durch  spleenige Tollheiten, auf wundersame oder primitive Bewirkung fürs Erwartete hinaus. Die Übergänge von Stufe zu Stufe sind vergessen. Unbegriffen, dass Aufhebung einer Lebensgestalt als Selbstüberholung nicht nur das Positive bringt, notwendige Verbesserungen, sondern auch zugemutete Selbstveränderung und Anstrengungen. Vorsorgelos und fahrlässig die Umstellung treiben lassen, nicht lebenswert, zumutbar und schlüssig ausgerichtet zu haben, dürfte den Widerstand des eingefahrenen Alten gegen das ungewohnt Neue wecken. Mehr noch. Es lauern wie der Blitz aus heiterem Himmel plötzliche Widerfahrnisse, bittere Ohnmachtserfahrungen und leidvolle Schicksalsgewalten auf.

 

Was führt das Gleichnis in Bezug auf  das Höhlenleben so verrätselt oder versponnen an?

Es geht um Herausforderungen so vieler Textstellen, die es in sich haben, die eigene Kindheit bis hin zur Sicht auf die Himmelskarte authentisch zu erschließen, um weltkundig und weltvernünftig zu werden. Jedes Wegstreichen oder Übergehen eines Rätselhaften oder noch nicht Aufgeklärten bedeutet Niederlage, Kapitulation, nämlich einen lebenswerten Gegenstand für das Beisichselbstseinkönnen in Mußestunden, sei es allein oder mit anderen im Gespräch.

 

  • Gefesselt von Kindheit an. Was alles an Bedeutungen steckt allein in dem Wort Fesselung und ist wesentlich zu vergewissern, sich bewusst zu machen

  • Details zu den Fesselungen: Schenkel, Nacken, starre Blickrichtung, Kopf nicht wenden können. Worauf weisen die Wörter hin, wofür stehen sie

  • Schatten als Wort lässt auf Mehrdeutigkeit nachfragen. Wer, was und wie kann es gemeint sein, sei es  konkret, im übertragenen Sinn oder anderswie

  • Platte Schatten an der Höhlenwand sehen, Schattengeschehen unaufhörlich vorüberziehen sehen, sei es am Tag oder in der Nacht. Worauf weist das hin

  • Schatten sprechen hören, als Widerhall vernehmen, vordergründig gesehen, nicht in der Räumlichkeit differenziert erkannt und eingeordnet

  • Schattenwurf – von Mauer, Gestalten, Gerätschaften – Lichtquelle im Rücken, etwas an der Höhlenwand sehen und von dort her hören. Vergleichsweise wie vom Vordergrund einer Puppenspielbühne her zu gewahren

  • Feuer als Licht in der Höhle wie die Sonne im Freien, ein großer Unterschied. Worin besteht er? Tragfähige beziehungsweise reelle Erklärungen  gesucht. Erfassen des Gemeinsamen und Unterschiedlichen

  • Der Kopf ist nur indirekt angesprochen und im Höhlenleben nicht signifikant. Er kommt als Leistungszentrale nicht vor, bekommt aber „für uns“ fesselungsbedingte Denkausfälle zugesprochen, die im Freien Stufe um Stufe höher, neu befreiungsbedingt, zu überwinden sind

 

Was wird über Befreiung und Höhlenausgang gesagt?

 

  • Zufälligkeitsgeschehen und gewaltsame Verschleppung als abschreckendes Erleben von grellen, blendenden und schmerzhaft  einfallenden Lichtwirkungen, die Abwehrkräfte mobilisieren, schließlich erlösende Rückkehr zu vertrauten Schatten und Lauten bewirken, die für „wahr“, weil bekannt, gewohnt, nicht mehr schwierig, schmerzhaft oder strapazierend  und darum für reaktionswichtig gehalten werden

  • Nur indirekt wird ein Befreier für den zu Befreienden ausgesagt, positiv denkbar, einem gewaltsamen Verschlepper entgegen, allerdings noch unspezifisch, nicht so, was seine Befähigung für denkbare Vorbereitung, Vorübung oder Vorschule der Einübung von spielerischen Wahrnehmungstücken für die zu befreienden jungen Menschen angeht, dem vergleichbar, wie denn der Erzähler ein Mehrwissen für Nichtgesehenes mit Theaterhinweis eingebracht hat, hier nun als Erfordernis der  allmähliche Übergang an einer entscheidenden Schwelle, eben der gewaltsamen Verschleppung entgegen.

  • Auch eine Andeutung für weiteren Neugewöhnungsbedarf in aufsteigender Wahrnehmungswelt, Stufe um Stufe,  findet nicht statt, ist jedoch, was den folgerichtigen und schlüssigen Fortgang  angeht,  durchaus vom jeweils erweiternden und höherwertigen Novum vorhersehbar und nachvollziehbar.

Das Gleichnis für sich lässt Anspielungen auf treibende und verlockende Kräfte aus, gibt keinen Hinweis über die allmähliche Gewöhnung hinaus, insbesondere hier also für den Übergang von der singulären Höhlenwelt zur universellen Freiheitswelt, der von den Interpreten wenig authentisch in Bezug auf die „Periagoge“, auf die Umwendung mit Blick auf das Momentum der „Knabenliebe“ oder im Hinblick auf den „pädagogischen Eros“ in die kritischeReflexion geholt worden ist. Paideia als epochale Innovation in der Poliswelt, von männlichen Bezugspersonen geleistet, über die frühere Ammenbetreuung nun als Neuerung im Polisleben hinaus.

 

Was wird über die Aufstiegsstufen der Freiheitswelt wie auch Rückkehr wesentlich angedeutet und der Auslegung aufgegeben?

 

  • Vom bloß Gesehenen in der Höhle auf hinzuzeigende und auch auf lautzuversehende Schatten im Freien tun sich diese „wahrgenommenen“ Schattenwürfe als Lichtpunkte der Freiheitswelt auf.

  • Spiegelbilder im Wasser lassen stutzen und lassen auf diese Gedoppeltheit von Schein und Wirklichkeit auch die Deutbarkeit für Dinge und Lebende erfragen und im Fliehenden und Wiederkehrenden auf Wahrheit eines Bleibenden befragen.

  • Sprache als Problem: Von verwirrenden Lauten und Gesten umgeben, da fragt sich, für welche Dinge selbst sie stehen, für welche Dinge selbst der Laut, das Wort, eben das, was da vom gestikulierenden  und lautenden Gegenüber gemeint ist. Die assoziierte Bildlichkeit verständigt das Wort wie die Anzahl, gibt eine Vorstellung davon, worauf die Wortfindung (auch das Zahlwortdenken) sich bezieht.

Spiegelbilder und Lautgestalten und Wortverortungen, sie identifizieren ihre Wirklichkeit, ob zu Nennendes oder zu Zählendes, als Dinge selbst. So von einer Sprache, was sie alles ausdrücken kann, in eine fremde, bei der man, ohne sie für Verstehen, Verständigen, Auffordern und Ausführen gelernt zu haben, nicht mehr weiß, um was es geht, was sie denn, ob lautlich oder schriftlich ausdrückt, besagt und anspricht.

  • Blick zum Himmel mit seinen Gestirnen tagsüber und nachtsüber, was diese zeigen, erwirken und ermöglichen, ja, von Wasserspiegelungen ausgehend,   zu welchen Einsichten und Erkenntnissen der Gang von Sonne und Mond und konstellativen Stellungen der Gestirne im großen Kreis der Wiederkehr des Gleichen schlussendlich die Betrachtenden und Abbildenden für einen zu befolgenden Lauf des Lebens bringt.

  • Ein zu solcher Einsicht in das Ganze Befreiter, vom Mitteilungsbedürfnis getrieben, die Gefangenen, noch in der Höhle, an solcher neuen Wirklichkeit teilhaben zu lassen, er läuft in  vielerlei Gefahr trotz wohlmeinender Absicht, denn er versteht in der eigenen Helle die sich im Wetteifer bedrängenden Höhlenbewohner in dem Dunkel ihrer Welt nicht mehr und diese den aus ihrer Sicht verstiegenen Angeber, Spinner, Verwirrten einer Nirgendwo-Welt nicht, von Arglistigkeit nicht mehr zu reden..

  • Ja, insoweit der Befreite für eine Befreiungstat nicht verstanden hat, die Höhlenbewohner von dort abzuholen und aufzubauen, wo sie stehen, stattdessen sie in ihrer anfälligen Lebenssituation mit dem krassen Besserwissen zu bedrängen,  zu irritieren und zu gefährden, dürfte er sich nicht darüber wundern, den tödlichen Hass der sich verunsichert, bedrängt und bedroht Erlebenden auf sich zu ziehen. Der Befreite, der da belehrt, weiß noch nicht aus seiner Höhlenerinnerung von seiner Wegerfahrung zu berichten, durch Anteilnahme hilfreich beizustehen und wirklich lindernd und erhellend zu wirken und tatkräftig zu überzeugen.  

  • Schlimmer, der Befreiungsimpuls verliert sich mit Sokrates im Zuge der Auslegung zur philosophischen Selbstbeweihräucherungsrolle, fürs gefährliche Wirken und Lehren der neuen Weltweisen respektive Kathederphilosophen, hier mit Büste, da mit Skulptur oder Pose geehrt. Dem Religiösen zugehörig: Glorienglanz, Märtyrerkrone, Aureole.  Besserwisserisch neu aufgestellt, welche Gurus und Aschrams, welche Stimmgewaltigen und Gefolgschaften, Leuchten der Bewegungen und Anhängerscharen auch immer, machtpolitisch, zivilgesellschaftlich oder religiös auftretend, der naiven Rückkehr und dem verdunkelnden Eintauchen entgegen,  durch Einstellung für gelingenden Rollenwechsel. Ausprobiertes für Bewusstseinswandel und angestrebten Fortschrittserfolg: Hefe im Teig, Salz der Erde, Helfer im Gewusst wie. Volksbezogen: manipulativ, demagogisch, machtpolitisch. Menschheitlich auf dem Schirm: revolutionär, reformerisch, aufklärerisch: All das ambivalent.

 

 

Teil 3: Ausgangspunkte: Hermeneutik als Ehrensache

 

Fordert nur scheinbar Rätselhaftes, sprachlich Missglücktes beziehungsweise teilweise wirres und schlecht versponnenes Zeug am Text des Höhlengleichnisses heraus? Ist das Ursache für divergente Textinterpretationen, die so widersprüchlich und beliebig auseinanderfallen und sich so wenig einander durch den gemeinsamen Ausgangstext ergänzen?  

 

Heikle beziehungsweise rätselhafte Stellen, an der die Verständnisbemühungen einknicken und Interpretationskunst kapituliert. Jedes Fragment setzt Fragezeichen, fordert den Bedarf an Klärung und an gemeinverständlicher Übersetzung eines uns sachlich zugänglichen Wirklichkeitsbezuges. Und das der Verirrung in Unwirkliches, Abwegiges und Absurdes entgegen, ungeachtet der Doppeldeutigkeit, was konkret aufgefasst werden kann, aber auch im übertragenen Sinn zu verstehen ist und zu bedenken wäre. Was als Herausforderung gelten kann, nicht nur für Lernende der Oberstufe, sogar für professoral getitelte Interpreten: Eigentlich gar nicht so viel Aufzulösendes für den klaren Gedankengang:

 

wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung

…von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln

… nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend …

Licht aber haben sie von einem Feuer

… Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen … Kunststücke zeigen …

… längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder von allerlei Arbeit …

… dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen  haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft …

… meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten …

irgend etwas anderes für das Wahre  halten als den Schatten

… gegen das Licht zu sehen … Schmerzen hätte … wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte jene Dinge zu erkennen …

… damals habe er lauter Nichtiges gesehen …

… wenn ihn einer mit Gewalt … den unwegsamen und steilen Aufgang schleppte und nicht losließe … wird er nicht viel Schmerzen haben …

Gewöhnung also, meine ich, wird er nötig haben, um das Obere zu sehen …

zuerstSchatten am leichtesten erkennen,

hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser,

und dann erst sie selbst.

… was am Himmel ist …

… Himmel selbst leichter bei Nacht …

… bei Tage in die Sonne und in ihr Licht

… die Sonne selbst, nicht Bilder von ihr im Wasser oder anderwärts, sondern sie als sie selbst …

… wenn er nun seiner ersten Wohnung gedenkt und der dortigen Weisheit …

… Ehre, Lob und Belohnung … der das Vorüberziehende am schärfsten sah, am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich … am besten vorhersagen

lieber alles über sich ergehen lassen, als wieder solche Vorstellungen zu  haben wie dort und so zu leben

… wieder … wetteifern … mit denen … würde man ihn nicht auslachen … es lohne nicht … sondern man müsse jeden … wenn man seiner nur habhaft werden  … könnte, auch wirklich umbringen

 

Eine Frage der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst: Bei gewecktem Interesse am Höhlengleichnis wird der Text nicht nur einmal gelesen, auch zweimal, dreimal, um sich zu vergewissern, selber nicht flüchtig, ungenau, missverständlich und gründlich genug gelesen zu haben. So sehr das irgendwie Ansprechende im Ganzen ein Gefühl von Bedeutsamkeit anreizt, sind da doch etliche Stellen, rätselhaft, vielleicht, wodurch auch immer, missglückt. Sie zeigen sich sperrig, Sinn hinein- oder herauszulesen. Aber der assoziative Reichtum ist groß, lädt geradezu zum Ausmalen ein und das Bemühen der Sinnfindung, zu einem vollgültigen Textverständnis zu kommen, neigt dazu, die Hürde zu überspringen, sich mit „Halbwissen“ zu begnügen. Adorno hat die Gefahr der „Halbbildung“ gesehen, eines Halbwissens, das von der Sache selbst wegführt,  in Effekten der Vorstellungskraft Lust und Erfolg sucht und nicht selten zugleich bestrebt ist,  Unwissen oder offene Flanken zu verbergen.  Auf diese Weise wird die Herausforderung entwertet, der Aussagekraft des Gleichnisses selbst auf  Höhe der Zeit in Wahrheit zu genügen und es wird sogar die Herausforderung in Bezug auf die wissenschaftliche Sache selbst als zeitgemäße Wahrheitsfrage aufgehoben und verstellt. Ein Genügen in Halbheiten als Tatbestand, nicht nur auf Schule gemünzt, auch Lehrende und Publizierende im Raum der Wissenschaft oder Freizeitwelt. Freimütiger Umgang mit den Schwierigkeiten, das wäre ein erster Schritt zur Relevanz der  Sache selbst im Gleichnis zurück.

 

 

 Teil 4: „Nicht gerettet“ (Sloterdijk) – fündig geworden

 

Hegelsches Prisma hier unterlegt versus nietzscheanisches/heideggersches Prisma da aufgefunden:    Peter Sloterdijk hat über „Versuche nach Heidegger“ geschrieben. Er ist einer, der eingängigen Einflüssen von Nietzsche und Heidegger schon recht früh in der Nachkriegszeit erlegen gewesen ist. Er hätte gern existenzphilosophisch geheideggert. Zu der Zeit galt Heidegger noch als der Jahrhundertphilosoph. Auch Friedrich Nietzsche hatte der Verriss noch nicht ereilt. Hans Blumenberg tat sich schwer, vom verinnerlichten Nietzsche abzulassen und erst sehr  spät hatte er sich von Nietzsche klipp und klar losgesagt und positioniert. In der Tat, Frühprägungen durch naive Rezeption, davon befeuert, sind nur schwer zu überwinden, zu extinguieren. Karl Löwith folgte einem einfachen Interpretationsmodus ohne Auflagen für sachgerechtes Interpretieren: Sich am Guten orientieren, nicht am Schlechten.

 

So einfach fiel es Peter Sloterdijk nicht, der mit seiner Positionierung unter Druck geriet, durchaus sich der Fragwürdigkeit seiner philosophisch exponierten Selbsteinordnung bewusst wurde und im Konkurrenzgeschehen die klaffende Wunde im vorherrschenden Diskurs verspürte. Wie damit umgehen? Ob „Nietzsches fünftes Evangelium“ oder die doppeldeutige Auseinandersetzung mit Heidegger, was nach diesem zu verstehen gilt. Sloterdijk zeigt sich zuhöchst kritisch, aber hält zugleich die frühbewunderten Philosophen in Ehren, schreibt diesen mit jeweils angeführten Schnipseln, äußerst vage, die Deutungen seiner exzellenten Einsichten und Reflexionen zu, die den tatsächlichen Positionen der Geehrten entgegen sind! Was an Glanzstücken mit großer Aussagekraft vor Augen kommt, ist ganz und gar  Peter Sloterdijk, sozusagen wie chinesisch belehrt, in Ahnen den Ursprung  eigener Erfolge zu ehren. Right or Wrong: Man kann nachhelfen für das Gute, das noch unter der Ambivalenz versteckt war.

 

Schon der Text „Absturz und Kehre“ bringt die Problematik  zum Vorschein, dem Platons Höhlengleichnis eingearbeitet ist. Was in dieser Hinsicht „fündig geworden“ heißt, gehört nicht nur der Kohärenz in der Höhlengleichnis-Auslegung an, sondern auch dem Haupttext. Ein bloß paränetischer Verweis stellt die rationalen Mindestregeln einer Texterschließung in Frage: „Wer sich an Platons Höhlengleichnis erinnert, weiß, wie das gemeint ist.“ Was denn dann die kategoriale Reflexion in Bezug auf Heideggers Denken in der Bewegung angeht, wäre Derridas Begleitverfahren, das in Bezug auf die mitzudenkenden Zeitereignisse vom I. Weltkrieg bis hin zur Führerdekade als geschichtliches Wissen hinzuzunehmen ist: Absturz – Erfahrung – Kehre – Verwindung. Die wesentliche Faktenlage kann nicht einfach in den wesentlichen Details als „bekannt“ vorausgesetzt und weggelassen werden.

 

Was abstrakt so einleuchtend reflektiert wird, zeigt sich in concreto, in den tatsächlichen Geschehnissen der Zeit,  grottenschlecht einbezogen. Heideggers Erfahrung wird nicht reell aufgegriffen und in der Ambivalenz nach Seite der Tatsächlichkeit aufgezeigt, sondern wie sie auch anders , und zwar fiktiv mit Heidegger hätte weitergedacht werden können, was nicht zeitrelevant stattgefunden hat. Als genügte alternativ im Vorwissen für wegweisende Handlungsimperative das Ungefähr: Man steckt im Schlamassel und will wieder aus der demütigenden Fallerfahrung heraus und hat das, was mit dem Versailler Vertrag Empörung und Wut hochkochen und angesichts der Erniedrigung auf Vergeltung sinnen lässt, das Vorherige vergessen, den lüsternen Kriegseintritt und Fortgang, eben die Spekulation auf Eroberung und Beute, Investitionen in den Sieg, der auch dann als ein kurzer und fetter Siegfrieden im Osten noch umstürzlerischer, beutehungriger und schicksalhafter  realisiert worden ist und all das nicht mehr bei den Rachegedanken und Vergeltungslüsten auf dem Schirm. Sloterdijk registriert die eindimensionale Reflexion nicht, blind dafür, dass Kehre und Verwindung, bar einer selbstkritischen Haltung, nicht zielführend sind, sondern tatsächlich einer noch schlimmeren Kriegsbereitschaft in die Arme gearbeitet haben. Wer auf Deutschland in Verbindung mit der EU im 21. Jahrhundert schaut, kann den Willen um einen „Platz an der Sonne“ in der Welt neu entdecken, als gäbe es die geschichtsträchtigen Erfahrungen und Vorsätze nicht mehr, nämlich auf Kampfspiele des Wettbewerbs und der Rivalität zu verzichten und sich nicht machtpolitisch und kriegsgewappnet auf der Weltbühne der Großen zurückmelden zu wollen, den großen Hauptherausforderungen in Bezug auf natürliche Lebensbedingungen,  wohlgeordnete Staatenwelt und menschliche Völkerbewährung entgegen. Die weltweite Bedrohungslage: pandemisch, klimagefährdet, ressourcenbegrenzt, ethnozentrisch. Mangel an Weltsinn: Anerkennung, Verträglichkeit, Zusammenarbeit, Wertschätzung. Korrelatives Tun, dem Grüßen als Vorgang und Resultat abgeschaut (Gadamer), als erzeugtes Zustandekommen die diplomatische Vorlage Figur und Meisterleistung für hervorgebrachte Anerkennung auf Gegenseitigkeit. Nicht mehr bloß Erwartung des Besseren von anderen und  selber auf  Verteidigungsstärke setzen, um den Anforderungen und  Zumutungen verteidigungsbereit zu wehren, Die Spirale der Wehrtüchtigkeit ist ein Ding ohne Garantie. Man verhält sich nicht entschieden, es bleiben Optionen offen. Wer so unberechenbare Gefahren zu meistern hofft, kann ein blaues Wunder erleben!

 

Kein Seinsvergessen, aber von der Wissenssozialisation her, was das verinnerlichte Staatswesen und den Weg der europäischen Integration in die Welt hinein betrifft, einfach geschichtsvergessen. Der frühe Sloterdijk hat Hegel noch nicht entdeckt, wäre eher Kantianer, auch späterhin vom absoluten Begriffsdenken her nicht zu überzeugen, bleibt ganz kantisch der transzendenten Grenze verhaftet, erkennt nicht das Absolute als systemische Koordination, als absolute Orientierung für das, was er an Heidegger als Denken einer bloß deutschen Segmenterfahrung in der Bewegung reflektiert, einen Heidegger, den Sloterdijk verspätet schließlich für den Prozess der Reflexion hegelsch überholt, nicht mehr der Besonderheit, einem Volk verhaftet, sondern von der Gattung des vernunftbegabten Lebewesens her versteht und reflektiert und nicht das Übersinnliche, also Geistige, absolut nimmt, sondern ins Sinnliche der Vorstellungen  wieder zurückfallen lässt.  Dem Bereich der objektiven Rechtssubstanz, vom gesetzlichen Willen fortschreitend prozessual und resultativ betätigt, nicht nur als Staats- und Völkerrecht, das darin potenzialiter enthaltene  rechtliche Verfassungsgebäude  der Interdependenz von Natur – Welt – Mensch überhaupt, nicht an einem Tag erbaut, diesem historisch-politischen Denken bleibt er außen vor, blockt ab und verkennt, dass die Reflexionen und Einsichten des erkennenden subjektiven Geistes zunächst vorab die inspirative Basisquelle für den objektiven Geist des Rechtsfortschritts sind, ein aufgegebenes Wissen, blindem Tun, insonderheit, vorstellungskräftig gefasst , dem einer kurzsichtigen Politökonomie des anarchischen Selfish-Denkens entgegen.

 

In Sloterdijks Textsammlung „Nicht gerettet“ finden sich viele Gedankenkristalle, die für Schule und Studium wünschbar sind, den Geist zu beflügeln. Sloterdijks Texte komprimieren, raffen Horizontales und Vertikales zusammen, verdichten den Stoff und verlangen ein gestrecktes Intervalllesen, um  sich nicht zu überfordern. Ein Brevier für die große Zahl an Glanzstücken wäre ideal, um Wissen um Standortbewusstsein, dem 21. Jahrhundert gemäß, zur Kenntnis und Erkenntnis zu bringen. Sloterdijks reflexive Goldader lässt sich gut an verstreuten Stücken, die für das  Höhlengleichnis relevant sind, verdeutlichen. Das sprachschöpferische Angebot in seinen Texten nicht zu vergessen, aber es holt nicht im kühnen Anfang seiner Ausführungen zu  „Hominisation“ und „Brutkasten“  die Kindheit in der Höhle ein und bleibt bei der „Muttertier-Kind-Symbiose“ (!) stehen, registriert darin nicht den überkommenen Dünkel von Philosophen, die ohne ihre Mütter  nicht die wären, die sie mit ihrem Anteil geworden sind.   

 

„Der Mensch steigt nicht aus dem Hut des Zauberers wie der Affe vom Baum; er geht auch nicht auch nicht aus der Hand eines Schöpfers hervor, der alles im Vorauswissen überblickt. Er ist das  Produkt einer Produktion, die selbst kein Mensch ist und nicht von Menschen intentional betrieben wurde. Der Mensch war noch nicht, was er werden würde, bevor er es wurde.“ (S. 167f)

 

Von Goethe wie unbelehrt, näher der eigenen Lebenszeit heran, sei es nur nachdenklich darüber  sinnend,  was es mit dem Apfel auf sich hat, der nicht weit vom Stamm fällt, die Statur vom Vater, vom Mütterlichen die Frohnatur, frühkindlich geprägt, von den Ereignissen und Umständen. Der Unschärferelation erlegen, nicht die „sanfte Geburt“ und die neue „Babyschule“ im Blick, auf einen neu zu weckenden Lebensgeist hinaus, dem Mütterlichen verdankend. Sensibilisierung der Lebendigkeit, der Lebensgeister, für Farben und  Melodien des Lebens, Dissonanzen überwindend, ein Wechsel von Dur und Moll, bezaubert vom Lächeln, getröstet bei Schmerz und Tränen, entlockte Worte, Köpfe zusammensteckend: Vater. Mutter, Kind. Unaufgearbeitet  an Johanna Haarer, an der frühkindlichen Erziehung  in der NS-Zeit vorbei, an Vätern vorbei, vom erlittenen Kriegstrauma des Ersten Weltkrieges Geschädigte, stumpf geworden für Menschlichkeit, weniger der Lebensfreude offen als der Lebensgier und Verzückung in heilsrufenden Massenräuschen, übergegangen an die Stadien mit sportlich nachgelebten Sieg-, Niederlage-Veranstaltungen nach der großen katastrophischen Niederlage.  

 

Was das Höhlengleichnis selbst betrifft, stellt sich Sloterdijk nicht systematisch dem unmittelbaren Anfang, sondern sucht den Blick von oben, als einer, der schon von der Sonne und von ihrem Licht und Schein her auf die Welt schaut und vom Wendepunkt weiß, dem zwischen Lichtwelt, die weiter aufwärts zur Sonne führt, und Schattenwelt, die schon wie vergessen weit im Rücken liegt, aber  nicht über diesen in sich unendlich bleibenden Generationenprozess der Erkenntnisgewinnung hinaus, die im Ende einen neuen Anfang findet und das ohne rechtsphilosophischen Übergang und Fortgang, nämlich als eine ausgreifende Erkenntniswelt für die sich festhaltende begriffene Willenswelt der Rechts- und Staatswirklichkeit, als diese aus dem Erkenntnisvermögen  aufgegeben zu sein, schlussendlich von der kategorialen Synthese der absoluten Geisteswirklichkeit, für die Sloterdijk  negativ wie ein Neometaphysiker auftritt, der alten Metaphysik entgegen, hegelsch unbelehrt, ein Kämpfer der neuen Aufklärung, den Glauben an die alte Metaphysik bekämpfend, den er für seine theoretischen Thesen selber mit Heidegger- und Nietzsche-Bezug voraussetzen muss, um in seiner Sache voranzukommen. Ja, titelgerecht: Nicht gerettet.  

 

„Wenn der Philosoph seine Schule eröffnet, lädt er die Nicht-Erzogenen ein, nicht dort und so zu bleiben, wo und wie sie sind; es ist seine Mission, den Bürgern und den Jungen zu zeigen, wie seine Mission, den Bürgern und den Jungen zu zeigen, wie sie aus ihren Höhlen: ihren Familienbefangenheiten, ihren Stammesneurosen, ihren Meinungskäfigen herausfinden.

… Damit aber der Philosoph von der Stadt aus in die Peripherie und an den Himmel ausgreifen kann, wäre vorauszusetzen, dass er ganz in den Stadtraum hineingewachsen ist. Sein Exodus vom Städtischen ins Kosmische kann sich allein auf urbanem Boden abspielen. Die Deterritorialisierung  des Geistes ist abhängig von einem Territorium, auf dem die Bürger ihre Interessen verfolgen, Meinungen haben, über das Rechte streiten und sich auch bereits von den Geschäften zurückziehen. Wer ins Überstädtische aufbrechen will, muss zuerst ganz städtisch geworden sein.“  (S. 49)

 

Die Lichtung nach Platon ist für Sloterdijk der revolutionäre Gedanke der „Periagoge“, um der Polis den klaren Kopf für ein geordnetes Zusammenspiel der Befreiungsstufen zu erwirken, mit der sogleich die Loskettung der Gefangenen von Projektionen auf hoher Übertragungsebene des 20. Jahrhunderts thematisiert wird:

 

„Da wird vorgeschlagen, sich vorzustellen, was geschähe, wenn die durch die Erscheinungen an der Vorführwand verzauberten, physisch fixierten Höhlensklaven, die Alltagsmenschen auf der Agora und die gerüchteabhängigen Medienbenutzer, losgekettet, umgedreht und zum Höhlenausgang hinaufgeführt würden: Hätten diese sich erst einmal auf den Weg zum Ausgang gemacht, so müssten sie … bemerken … dass sie … bislang auf bloße Projektionen hereingefallen waren. Was war dann bisher unser Leben? – ein Herumtappen in sinnlichen Trugbildern, eine Illustriertenilllusion, ein Hocken vor Videos, die die Welt bedeuten.“ (S. 62)

 

In der Konsequenz bedeutet das: „Die Welt im Ganzen, soviel wird nach der erhellenden Umwendung klar, ist eine totalitäre Simulation. Die Existenz im Höhlenleben ist die erworbene Unfähigkeit zur Ideenschau. Sie bannt uns in die Internierung, halb Illusionsfestival, halb Gefangenenlager.“  Die Aussage lässt sich auf den Bildungsdünkel beziehen, wozu differente Bildungsabschlüsse befähigen und welche Laufbahnen sie eröffnen und welche nicht das Tor zur philosophischen Befähigung öffnen. Sloterdijk leistet keine grundsätzliche Kritik des dreigliedrigen Schulsystems: Volksschule, Realschule, Gymnasium, ist in dieser Hinsicht gräkoman, auch in der Bildungsreform, bleibt doch für die philosophische Wichtigkeit das altsprachliche Gymnasium (noch) vom Image her formell der Favorit, wird jedoch vom allgemeinen Qualitätsmerkmal her in Konkurrenz mit Gleichrangigen geschliffen.

 

„Die kleinere Lichtquelle im Höhleninneren … ist … verantwortlich für die Schatten, die die Welt bedeuten. Aber dass dieses Feuer nur Licht von dem Lichte ist, das von der Sonne des Guten stammt, das wird man erst draußen im Freien erahnen, wenn man nach dem Heraustreten aus der Höhle aus dem Höhlenausgang der Sonne selbst gewahr wird. Wir können sagen, dass die platonische Umdrehung ein zweistufiges Geschehen vollzieht.“ (S. 63)

 

Stufe 1: Aufmerksamkeit für den Alltagsgeist der Menschen in Wahrheit schaffen.

Stufe 2: Lichtfülle von oben – Heideggers „transzendenter Geist“ des Höhlengleichnisses steht Pate.

 So werben Philosophen für sich elitär ein, das Prädikat der menschlichen Reife als Zulassungsvoraussetzung für Studium und Teilhabe am philosophischen Geistesleben.

 

 Befreiung vollzieht sich durch reelle Erkenntniskritik, die den Schein hinter sich lässt, von den Erfolgen der Naturwissenschaften überrollt.  Sloterdijks spezifische These: Erleben, was revolutionäre Ironie heißen kann, die sich im Idealismus widersinnig behauptet, im Überschreiten ihrer Wirklichkeit selbst sich bekämpfende und konterkarierende Ideologismen zeugt. Sozusagen der Vorgriff auf oder der Zugewinn aus dem Werk: Kritik der zynischen Vernunft. Das Zynische, es kommt nicht sonderlich greifbar herüber, bleibt ungeschärft, um Vergleichbares erkennen zu können. Jugendliche, die zynisch witzelnd ihrer Tat süffisante Begleitung geben und der die Treppe hinuntergestoßenen Oma nachrufen: Oma, warum läufst du so schnell? Oder der fromme Wunsch einer Nonne, die einem offensichtlich verkalkten Geistlichen mit ihrer Notlösung bedenkt, dass der Herr ihn bald zu sich in den Himmel rufen möge. Oder im Wiederaufbau die Städtischen stöhnend und über widerständige Bürger klagend, die da immer wieder Scherereien bereiten und von daher ihr Wunschdenken von der Vergangenheit her treiben:  Ach, hätten doch nur ein paar Bomben mehr für Flurbereinigung und weniger Quertreiber gesorgt!  Sloterdijk praktiziert Aufklärungsbedarf, der nachzuschärfen wäre.

 

Aufgreifen der Zielbestimmtheit im Rückgriff: Wofür Platon steht, was er sein möchte: Periagogiker, Seelenumdreher, neu variiert: der neue Mensch respektive Adam. Nach dem Weltkrieg mit Zivilisationsbruch nicht nur theologisches Leitwort von den Kanzeln, auch ein Thema der humanistischen Selbstbesinnung, insbesondere schulisch: Neuverständnis des Abiturs als Additum, nicht mehr als adelndes Prädikat der erlangten menschlichen Reife mit Zeugnis, dem Reifezeugnis. Der Lichtstrahl der Aufklärung, er gilt der philosophischen Elite, fällt weit über 2000 Jahre zurück, lässt die allgemeine Schulgeschichte der letzten  beiden Jahrhunderte aus, spricht nicht für die unteren Schulabschlüsse, sondern bleibt dem  Übergang zu philosophisch gymnasialen Höhen verhaftet.

 

„… die gewöhnlichen Kinderführer, die Lehrer und andere, die auch Geld nehmen, bringen junge Leute dorthin, wohin sie meistens ohnedies wollen, auf Laufbahnstufen und Rednerbühnen. Der philosophische Kinderumdreher lenkt sie zu einem Ziel, dass sie zunächst nicht anstrebten, weil sie aus Eigenem nicht ahnen konnten, was dort für sie zu gewinnen wäre. Er ist Psychagoge, der seine Schüler einführt in die Liebe zur „Wahrheit“. Er macht sie mit Lichtspielen des Apriori vertraut, indem er in ihnen eine unüberwindliche Ironie gegen das verfallene, verblödete, besessene Leben, das sogenannte eigene, freisetzt. Das alles tut er, indem er über die andere Seite der Bilder, die eidetischen Mechanismen, informiert.“  ( S. 64)

 

Fortsetzung folgt.

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